Drei Fragen an Patrik Diggelmann, Leiter Steuer- und Erbschaftsberatung
Um die Auswirkungen der Erbrechtsrevision zu verstehen, ist es wichtig, den Unterschied zwischen Erb- und Pflichtteil zu kennen: Beim Erbteil handelt es sich um den Anspruch, den Erben am Nachlass haben. Mit einem Testament kann die Verteilung des Nachlasses bis zu einem gewissen Grad nach den eigenen Vorstellungen gestaltet werden. Dieser Verfügungsfreiheit werden jedoch durch sogenannte Pflichtteile Grenzen gesetzt. Die Pflichtteile regeln den Mindestanteil am Erbe, den Nachkommen, Ehegatten, eingetragene Partner und – sofern keine Nachkommen vorhanden sind – auch Eltern erhalten.
Die gewichtigste Änderung der Erbrechtsrevision besteht in der Reduktion der Pflichtteile. Die Erbteile bleiben dagegen unverändert. Aktuell stehen Kindern ¾ ihres gesetzlichen Erbteils als Pflichtteil zu. Dieser Pflichtteil wird auf die Hälfte reduziert. Der Pflichtteil der Eltern wird ganz abgeschafft. Jener des Ehepartners oder der Ehepartnerin und des eingetragenen Partners bzw. der eingetragenen Partnerin bleibt unverändert bei der Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs. Zu beachten ist aber, dass neu der Pflichtteilsanspruch bereits bei der Rechtshängigkeit eines Scheidungsverfahrens unter bestimmten Voraussetzungen verloren geht.
Mit der Reduktion der Pflichtteile will der Gesetzgeber die Verfügungsfreiheit erhöhen, d.h. den Spielraum vergrössern, wem wie viel hinterlassen werden kann. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass das aktuelle Erbrecht aus dem Jahr 1912 stammt und seither nur punktuell angepasst wurde. Die Formen des Zusammenlebens sind heute vielfältiger, und das heutige Erbrecht wird den aktuellen Lebensumständen und Familienmodellen nicht mehr vollumfänglich gerecht. Es gibt nicht mehr nur das traditionelle Familienbild. Dieses wird zunehmend durch unverheiratete Paare mit und ohne Kinder oder Patchwork-Familien ergänzt. Das neue Erbrecht entspricht diesen modernen Formen des Zusammenlebens besser, da die Erblasserin bzw. der Erblasser freier über ihre bzw. seine Vermögenswerte verfügen kann.
Die erhöhte Verfügungsfreiheit kommt nur zum Zug, wenn diese genutzt wird. Dazu ein Beispiel: Bei einem kinderlosen Ehepaar verstirbt der Ehemann. Beide Elternteile des Verstorbenen leben noch. Per Gesetz erhält die Ehefrau ¾ des Nachlassvermögens und die Eltern ¼. Mit der neuen Gesetzgebung entfällt der Pflichtteilsanspruch der Eltern und der Erblasser kann sein ganzes Nachlassvermögen seiner Ehefrau zukommen lassen. Das passiert aber nur, wenn er diesen Punkt testamentarisch geregelt hat. Liegt keine solche Regelung vor, kommt die gesetzliche Erbfolge wie bisher zum Zug, und diese sieht vor, dass die Ehefrau ¾ und die Eltern ¼ erhalten. Die Revision des Erbrechts gibt dem Erblasser oder der Erblasserin mehr Flexibilität, die Vermögenswerte nach seinen oder ihren Wünschen zu verteilen. Unserer Erfahrung nach ist in vielen Fällen eine individuelle Regelung notwendig, um die eigenen Vorstellungen in die Praxis umzusetzen. Auch wenn bereits eine Nachlassplanung erstellt wurde, macht es Sinn, diese in Hinblick auf die Gesetzesrevision zu hinterfragen.
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Patrik Diggelmann ist Leiter Steuer- und Erbschaftsberatung bei der Schaffhauser Kantonalbank. Er berät mit seinem Team in Fragen zu Steuern, Vermögensnachfolge und zum Vorsorgeauftrag.
Veröffentlicht am 6. Juli 2021
Patrik Diggelmann, Leiter Steuer- und Erbschaftsberatung